1. Langer vs. kurzer Zeithorizont
Die allermeisten Zukunftsforscher blicken erheblich weiter in die Zukunft als wir es tun. Viele Szenarien beschreiben Situationen, die 10, 20 oder mehr Jahre entfernt sind. Im Gegensatz dazu beschäftigen wir uns ganz überwiegend mit Horizonten von maximal einem Jahr. Ein entscheidender Grund hierfür ist, dass die Arbeit von Forschern wie Phil Tetlock gezeigt hat, dass die Genauigkeit politischer Vorhersagen mit weiteren Zeithorizonten deutlich abnimmt und das bereits ab 3 Monaten. Bei Vorhersagen mit 10-Jahreshorizont produzieren die allermeisten Experten nur noch Trefferquoten im Zufallsbereich.
Bei Näherem betrachtet, ist dies auch wenig verwunderlich: In jedem System nimmt die Zahl der möglichen Entwicklungen exponentiell zur Zeit zu und in komplexen Systemen mit nicht-linearen Zusammenhängen gilt dies umso mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass das, was mich interessiert – egal ob das die Entwicklung des westlich-russischen Verhältnisses oder die Geschwindigkeit der Verbreitung internetfähiger Haushaltsgeräte ist – von völlig anderen Entwicklungen in gänzlich anderen Bereichen signifikant beeinflusst wird, wächst mit dem zeitlichen Abstand nicht-linear.
Ein anschauliches Beispiel ist das geflügelte Wort vom Schmetterling, dessen Flügelschlag am anderen Ende der Welt einen schweren Sturm verursacht. Dies geschieht natürlich nicht sofort, sondern mit erheblicher Verzögerung. Dann aber reicht (theoretisch) eine minimale Änderung einer Ausgangsgröße an einem Punkt des komplexen Systems, um langfristig einen völlig anderen Zustand herbeizuführen. Interessanterweise ist die Wettervorhersage bis heute ein wichtiges Feld, von dem andere Disziplinen immer noch viel über Vorhersage lernen. So stammt der Brier-Score, eine Methode um die Genauigkeit von Vorhersagen zu beurteilen, aus der Wettervorhersage. Beim Wetter sind die Fristen, innerhalb derer relativ gute Vorhersagen möglich sind, noch viel kürzer; bereits nach mehr als 4 Tagen sinkt die Genauigkeit stark, 10-Tagesvorhersagen sind im Wesentlichen Kaffeesatzleserei.
Oft genug geschehen außerdem Dinge, die die ursprüngliche Frage schlicht obsolet werden lassen (z.B. wenn jemand 1985 versucht, die Politik der DDR in 10 Jahren vorherzusagen).
Unser Fokus auf die verhältnismäßig kurzen Horizonte hat aber noch einen weiteren Grund: wir wollen so schnell wie möglich Feedback erzeugen, um dem einzelnen Forecaster die Gelegenheit zum Lernen zu geben und die Besten unter Ihnen zu identifizieren. Das bringt uns geradewegs zum zweiten zentralen Unterschied.
2. Vage vs. konkrete Fragestellungen
Eines der entscheidenden Kriterien für die Auswahl von Fragen im Good Judgment Project war der sog. „clairvoyance test‘. Dieser besagte, dass ein Mensch in der Zukunft im Rückblick eindeutig und ohne Unklarheiten den Ausgang einer Frage beurteilen könnte. Dies ist wichtig, damit das Feedback eindeutig ist (und damit die Gelegenheit zum Lernen besteht).
Wir formulieren also Fragestellungen wie „Wird mindestens ein arabisches Land im Freedom House Bericht von 2015 als ‚frei‘ eingestuft werden?“ anstatt „Scheitert der arabische Frühling?“ Man beachte das konkrete Datum, welches unabdingbare Voraussetzung für klare Uberprüfbarkeit ist!
Für heute soll es damit zunächst reichen, der 2. Teil folgt – aller Voraussicht nach – in einigen Tagen.